Rede von Winfried Wolf, Verkehrsexperte, Journalist und Herausgeber von ‚LunaPark21′, auf der 518. Montagsdemo am 29.6.2020
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
lasst mich mit zwei Vorbemerkungen beginnen:
Das ist jetzt heute – nach einem halben Dutzend Zoom-, Skype- und anderen Video-Schalten – meine erste Rede, die ich, nach der Corona bedingte Zwangspause, wieder öffentlich halten kann. Und es ist ein besonders gutes Gefühl, dass ich hier in Stuttgart auf der Montagsdemo reden kann. Ich hoffe, das hält an; und wir können unseren Protest auch in Zukunft auf der Straße äußern. Wo nötig mit Mundschutz. Aber nie mit Maulkorb.
In den letzten Stunden überkletterte die Spendenkampagne, die wir Mitte Januar 2019 für „LENK-IN-STUTTGART“ starteten, die 100.000-Euro-Marke. Viele waren vor eineinhalb Jahren hoch-skeptisch, ob das klappen würde; nicht zuletzt ich, der ich noch nie eine vergleichbare Geldsammlung betrieb. Hier vor Ort gab es viele, die das aktiv unterstützten. Vor allem zwei, die auf dem Platz sind: Doris und Bernd. Ganz herzlichen Dank! Wichtig dabei ist: Es gab inzwischen fast 1000 Leute, die spendeten. Die durchschnittliche Höhe je Spende liegt bei 120 Euro. Es sind also vor allem eher einfache Leute, die „Lenk in Stuttgart“ wollen. „Nur“ ein Drittel der Spenden kommt aus Stuttgart und der Region. Ein zweites Drittel aus dem übrigen Baden-Württemberg. Und ein Drittel aus dem übrigen Bundesgebiet: aus Köln, München, Leipzig, Hamburg, Berlin, Rostock oder auch aus den beiden Frankfurt: an der Oder und am Main. Das zeigt, wie unser Widerstand gegen das Monsterprojekt weiterhin breite Unterstützung findet. Es fehlen noch knapp 10.000 Euro bis zum 110.000-Euro-Ziel. Und das sollte bis Ende des Sommers zu schaffen sein.
Und dann – ja dann spricht sehr viel dafür, dass diese wunderbare, 10 Meter hohe Skulptur, die Peter Lenk in Bodman am Bodensee in nunmehr zweijähriger Arbeit geschaffen hat, dass dieser „Schwäbische Laokoon“ hier in der Landeshauptstadt einen würdigen Platz erhält – und dann von der Absurdität und Monstrosität des Projekts selbst und von der Ausdauer und Kreativität des Widerstands gegen Stuttgart 21 Zeugnis ablegt.
Derzeit tritt die Epidemie in Europa in den Hintergrund – auch wenn sie anderswo, so besonders in den USA und Brasilien, so stark wie nie zuvor wütet. Mit Stand von gestern Nacht sind es weltweit 500.321 Menschen, die an und mit dem Corona-Virus starben.[1]
In den Vordergrund rückt aktuell die Wirtschaftskrise. Und mit ihr die ersten großen Pleiten mit Massenentlassungen. So bei Condor. Bei Airbus. Und bei Galeria Karstadt-Kaufhof, wo allein 6000 Jobs wegfallen. In Stuttgart Bad Cannstatt, in Mannheim, in Göppingen, in Leonberg und in Singen werden fünf Kaufhäuser schließen. Wir auf diesem Platz sind solidarisch mit den Betroffenen. Und wir verlangen vom Land und den betroffenen Kommunen, aktiv zu werden und alles zu tun, die Kaufhäuser offen zu halten und die Arbeitsplätze zu erhalten.
Seit wenigen Tagen gibt es mit der Pleite des DAX-Konzerns Wirecard die Konkretisierung der Finanz-Crash-Gefahr. Als am 30. Juli 2007 die IKB-Bank zusammenbrach, kannte kaum jemand diesen Namen. Und keiner dachte, das könnte der Anfang einer Finanzkrise sein. Aber auch ohne Finanzcrash werden wir noch in diesem Sommer die Marke von drei Millionen Erwerbslosen überschreiten. Ein Blick in die USA, wo in drei Monaten 48 Millionen Menschen ihren Job verloren, zeigt, was alles auf uns zukommt.
Wobei die Epidemie keineswegs ausgestanden ist; eine zweite Welle kann entstehen. Aktuelle Hotspots wie die in Göttingen und Gütersloh zeigen, wie schnell das gehen kann. Die übervollen Ostsee-Strände am vergangenen Wochenende sind Ausdruck von Verantwortungslosigkeit.
Auch wenn die Fridays-for-Future-Bewegung etwas an den Rand gedrängt wurde, muss allen klar sein: Es gibt weiter die dramatische Klimaerwärmung – siehe der tauende Permafrost in Norilsk in Sibirien, durch den gewaltige Beton-Tanks mit Diesel absinken und leck schlagen. Die Klimakrise – auch aufgeheizt durch ein Projekt wie Stuttgart 21 – kann zu einem weit umfassenderen Lockdown führen, als das Corona-Virus einen solchen erzwang.
Für die Regierenden ist bereits jetzt klar: Die gigantischen Hilfsprogramme, die bislang den Kollaps verhinderten, sollen am Ende von der Mehrheit der Bevölkerung finanziert werden: Mit Sparprogrammen, mit neuen Klinik-Schließungen – gerade wurde die Schließung von drei Krankenhäusern in Sachsen angekündigt, mit Rentenkürzungen, mit höheren Renten- und Sozialversicherungsbeiträgen. Allgemein ist für uns ja klar: „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ Doch welche konkreten Antworten geben wir in dieser Krise? Genauer: Wie beantworten wir die falschen Antworten, die die Herrschenden bislang geben?
Drei Branchen können hier Aufschluss geben: Die Fleischbranche, die Luftfahrt und die Autoindustrie. Alle drei tragen zur Epidemie bei. Alle drei tragen zur Klimaerwärmung bei. Alle drei stehen im Zentrum der Wirtschaftskrise. Und alle haben mit Stuttgart zu tun. Zwei auch mit Stuttgart 21.
Fleischwirtschaft.
Vor Corona wusste kaum jemand, dass dieser Sektor ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist. Mit 120.000 Beschäftigten und 45 Milliarden Euro Umsatz. Mit einer enormen Kapitalkonzentration. 1993 gab es 350 Schweine-Schlachtereien. Heute sind es noch 120. Mit einem Weltmarktanteil der deutschen Schweine-Exporte von neun Prozent. Mit einer stark wachsenden Exportquote. Exportiert wird übrigens auch dorthin, wo die Arbeitskräfte herkommen – nach Rumänien und Bulgarien. Und nicht zuletzt wird nach China exportiert. Auch, so der Schlachtbranche-Chef Clemens Tönnies: „Füßchen, Öhrchen, Schnäuzchen“, alles was in Europa eher als unappetitlich gilt.
Und obgleich die Lohnkosten in der Branche weniger als 8 Prozent ausmachen, herrscht in den Schlachtereien ein extremes Ausbeutungssystem, von dem vor allem osteuropäische Werkvertragsarbeiter betroffen sind. Der katholische Priester Peter Kossen kümmert sich seit Jahren um die Werkvertragler. Er spricht von „sklavenartigen Zuständen“, von „Menschenhandel“ und von „Wegwerfmenschen“, die das Schweinesystem der Tönnies & Co. charakterisieren würden.[2]
Die Schlachthöfe tragen massiv zur Ausweitung der Corona-Infektionen bei. Bis zu einem Viertel der Schlachterei-Beschäftigten erwiesen sich als Corona-infiziert. Der weltweit wachsende Fleischkonsum, den die Branche vorantreibt, ist mitverantwortlich für die Klimaerwärmung. Seit 1960 gab es die Verzehnfachung des Anbaus von Soja für Tierfutter. Wobei damit Regenwaldzerstörung in großem Umfang verbunden ist.
Massentierhaltung ist ein Ausgangspunkt von Zoonose – Viren, die in der Tierwelt, oft im Bereich der Wildtiere, existieren, und die dort keine Krankheiten verursachen, springen von Wildtiermärkten und Massentierhaltung auf Menschen über, wo sie sich zur Epidemie entwickeln. Was in den Medien aktuell nicht oder nur am Rande gemeldet wurde, ist das Folgende, Hochspannende: In den letzten sechs Wochen mussten 400.000 Nerze in Nerzfarmen in den Niederlanden und in Dänemark getötet werden. Es wurde festgestellt, dass viele Nerze Corona-Viren entwickelt hatten, mit denen sich die Menschen, die dort arbeiten, angesteckt haben – und übrigens auch Katzen, die in den Nerzfarmen herumstreunten und die sich als Corona-Trägerinnen entpuppten. Das sind gefährliche neue Entwicklungen.
Und was passiert jetzt in der Krise? Die Fleischwirtschaft wurde als „systemrelevant“ eingestuft. Ihre Expansion setzt sich fort, auch wenn es ab Januar 2021 einiges an Kosmetik und einige Veränderungen bei den Beschäftigungsverhältnissen geben mag. Derzeit kosten 100 Gramm Schweineschnitzel bei Aldi weniger als 60 Cent. Wenn es die von der Agrarministerin Klöckner vorgestern angekündigte „Tierwohl“-Abgabe gibt, dann sind es vielleicht 90 Cent. Das ist und bleibt ein Skandal. Zumal das ja vor allem eine end-of-the-pipe-Abgabe ist. Und nicht dort ansetzt, wo es entscheidend wäre: In der Tierhaltung, bei den Tönnies-Gewinnen, beim 2,3 Milliarden-Euro-Vermögen des Clemens Tönnies.
Dabei bietet die Krise die Chance für eine umfassende Politikwende: Für eine Kampagne zur Reduktion des Fleischkonsums, zur Förderung von vegetarischer und veganer Ernährung, zur Ausweitung der Biolandwirtschaft, zur Förderung regionaler Agrarwirtschaft mit der Schaffung Zehntausender nachhaltiger Arbeitsplätze.
Man glaubt es kaum. Doch für den obersten Schweinepriester gilt: Bei jeder Schweinerei – ist Clemens Tönnies mit dabei. Also auch bei Stuttgart 21. Dieser Milliardär, der 30 Prozent aller Schweineschlachtungen in Deutschland kontrolliert, ist mit 33 Prozent an der „me and all Hotels GmbH“ beteiligt. Diese 2015 gegründete Hotelgruppe baut im Bonatz-Bau ein neues Vier-Sterne-Hotel – weswegen seit 2019 der Bahnhof entkernt wird. Weswegen für mindestens zwei Jahre dort alle Service-Einrichtungen geschlossen wurden. Der Architekt des Ganzen heißt – bingo & richtig: Christoph Ingenhoven!
Eine andere Personalie: Horst Mutsch. Dieser Herr ist Top-Manager bei der Station & Service AG, eine Tochter des Bahnkonzerns, sagte dazu: „Ein Hotel ist doch die optimale Nutzung für den historischen Bonatzbau.“[3] Ist das nicht ehrlich? Ein Deutsche-Bahn-Mann sagt, ein Deutsche-Bahn-Bahnhof würde doch besser nicht mit Bahn-Aktivitäten, sondern am Besten mit bahnfremdem Investment genutzt. Oder auch, O-Ton „me and all hotels-GmbH“: „Wir wollen mit unserem Lokale-Größen-Konzept DJs und Künstler in das Hotel einbinden […] und dort after-work-partys, Lesungen und Wohnzimmerkonzerte stattfinden lassen.“[4]
Übrigens: 2009 gab es in Stuttgart 15.000 Hotelbetten. 2018 waren es 21.000. Aktuell sind es rund 22.500. Das ist ein 50-Prozent-Plus im Zehn-Jahres-Vergleich.[5] Wobei die Auslastung der Hotel-Betten 2018 noch 50 Prozent betrug. Aktuell liegt sie bei 20 Prozent. Diese Art Aufbau von Hotel-Überkapazitäten könnte echt ins Auge gehen. Immerhin waren bislang fast alle Wirtschaftskrisen mit dem Platzen von Immobilien-Blasen verbunden.
Luftfahrt
In dieser Branche sind – einschließlich von Flughäfen, Airlines und dem Flugzeugbau von Airbus – rund 330.000 Menschen beschäftigt. Der Umsatz liegt bei 40 Milliarden Euro – nicht wesentlich höher als derjenige in der Fleischbranche. Der Flugverkehr trug erheblich zur Epidemie bei. Das Virus wurde in Flugzeugen und vor allem von Geschäftsleuten aus China in alle Teile der Welt exportiert. Selbst der gewaltige Corona-Ausbruch im österreichischen Ischgl, wo die Lifts bis Saison-Ende laufen mussten, ist nach bisherigen Erkenntnissen auf eine Gruppe von eher reichen Menschen zurückzuführen, die Ende Dezember aus der chinesischen Provinz Hubei in China kommend in Ischgl Station machte.
Der Flugverkehr trägt massiv zur Klimakrise bei. Vor allem verursachen die CO2-Emissionen des Flugverkehrs, die in großer Höhe emittiert werden, je Einheit deutlich größere Klimaschäden als die Kohledioxid-Emissionen des Autoverkehrs.
Aktuell steckt die Luftfahrt-Branche in einer tiefen Krise. Derzeit verbrennt allein der Konzern Lufthansa pro Stunde 1 Million Euro. Die Fluggastzahlen sind um mehr als 80 Prozent eingebrochen. Airbus will 15.000 Arbeitsplätze abbauen. Auch hier bietet die Krise die Chance zum Umsteuern. Doch was machen die Regierenden? Die Lufthansa wird als „systemrelevant“ eingestuft. 9 Milliarden Euro Steuergelder werden für den Lufthansa-Staatseinstieg bezahlt – ohne Mitbestimmungsrechte.
Nötig wäre eine völlig andere Politik: Downsizing des Flugverkehrs. Renaturierung von Airports. Siehe der überwältigende Erfolg der Schließung und Rekultivierung des Berliner Flughafens Tempelhof, der ein echter Magnet für die lokale Bevölkerung wurde. Sinnvoll wäre zu prüfen, wie Stewardessen und Piloten in den übrigen öffentlichen Verkehr übernommen werden können. Allein im Bereich Schiene fehlen 3000 Zugbegleiter und 1500 Lokführer. Wobei viele Stewardessen nicht wesentlich mehr als Zugbegleiter verdienen. Und das Problem der höheren Gehälter der Piloten lässt sich dadurch lösen, dass die Lokführer-Einkommen deutlich angehoben werden.
Der Stuttgart-21-Bezug liegt auf der Hand: Zunächst einmal dürfte sich die Luftfahrt-Krise im Fall des eher kleinen Stuttgarter Flughafens in einer existenziellen Airport-Krise niederschlagen. Der Echterdinger Airport ist grundsätzlich defizitär. Er wird jetzt ein fettes Defizit produzieren, das die Eigentümer – Land, Stadt und Region, im Klartext: die Steuerzahlenden – ausgleichen müssen. Sodann spitzt sich aktuell die Krise mit S21 auf den Fildern neu zu. Dort wird eine neue Führung der Gäubahn diskutiert – mit neuem Tunnel, mit neuem zeitaufwendigen Planungsverfahren, wobei das natürlich neue Milliarden Euro kosten soll. Oder auch, wie es das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 schreibt: Hier wird „Wahnsinn mit Wahnsinn bekämpft“.[6]
Dabei ist die Lösung doch ganz einfach: Die Gäubahn muss auf der alten Strecke, auf dieser wunderschönen Panorama-Bahn bleiben. Und der Flughafen braucht gar keinen Anschluss an den ICE-Verkehr. Wenn es schon schnellen Schienenfernverkehr gibt, dann muss dieser die Stadtzentren direkt verbinden. Jeder Halt vor den Toren der Stadt – auf dem Acker vor Frankfurt oder auf den Fildern über Stuttgart – deklassiert den ICE-Verkehr zum Zubringer zum Flugzeug. Dabei hieß es immer, der ICE werde Flugverkehr in großem Maßstab ersetzen.
Autoindustrie
Bleibt als letztes diese Branche – ein echtes Dickschiff: Mit 450 Milliarden Euro Umsatz. Mit inzwischen kaum vorstellbaren 63 Prozent Exportquote. Hier gab es Anfang 2020 noch 820.000 Beschäftigte. Ende dieses Jahres werden es rund 75.000 Arbeitsplätze weniger sein. Es drohen große Pleiten. Das trifft zu auf Opel. Und auf den Autozulieferer Leoni. Es wird Werkschließungen und Massenentlassungen geben. 2020 wird der Autoabsatz um 30 Prozent absacken. Einen solchen Einbruch gab es seit Weltkriegs-Ende noch nie. Wenn die ehemalige Glitzermetropole Detroit binnen dreier Jahrzehnte zur Armuts- und Geisterstadt wurde, dann kann Vergleichbares auch Wolfsburg, Ingolstadt, Heilbronn-Neckarsulm und Stuttgart drohen.
Die Autobranche ist für die Epidemie mitverantwortlich. Eine hohe Feinstaubbelastung – wie hier in Stuttgart oder auch in Norditalien mit Schwerpunkt Bergamo – erleichtert das Eindringen des Corona-Virus in die Tiefe der Lunge. Die Branche ist sodann mitverantwortlich für die Klimaerwärmung. Das gilt auch dann, wenn es zur teilweisen Umstellung auf Elektroautos kommt.
Und was machen die Regierenden in der Krise? Es gibt neue Steuermilliarden für die Autokonzerne. Es gibt neue Versuche der deutschen Autolobby, in Brüssel die Schadstoff-Grenzwerte erneut anzuheben. Es werden neue Gelder in die Ladesäulen-Struktur investiert, wo dann die Betuchten ihre teuren Elektro-Pkw mit Billig-Strom betanken. Die Prämien für Elektro-Autos wurden nochmals erhöht. Und diese Prämien – die im Orwell-Sprech als „Umwelt-Bonus“ bezeichnet werden – gibt es auch für die Plug-in-Hybride.
Womit wir beim Stuttgart-Bezug wären. Daimler setzt massiv auf diese Pkw-Modelle. Der Konzern spricht davon, Plug-in-Hybride seien eine „wichtige Brückentechnologie“. Daimler will in den nächsten fünf Jahren die Jahresproduktion der Mercedes-Benz-Plug-in-Hybrid-Modelle von aktuell 100.000 auf 300.000 mehr als verdreifachen.[7] Dabei schreibt auch die „Wirtschaftswoche“ in einer ausführlichen Reportage über die „Hybrid-Lüge“: „In der Praxis vereinen Plug-in-Hybride […] das Schlechteste aus beiden Welten“, der des Elektroautos und der der Verbrenner-Pkw.[8] Das Blatt dokumentiert, basierend auf ausführlichen Studien, dass die tatsächlichen CO2-Emissionen dieser Pkw „um bis zu 300 Prozent über den Werten“ liegen, die die Hersteller als Flottenverbrauch nennen. Sie liegen dann faktisch auch bei mehr als dem Doppelten der EU-Grenzwerte.
Auch hier böte die Krise die Chance für die Verkehrswende. Für ernsthafte Schritte zur Konversion – zur Umwandlung – von Autoproduktionsanlagen in Anlagen zur Fertigung von Loks, Waggons und Bussen. Für eine Übernahme von Autobeschäftigten, deren Jobs gerade jetzt – auch bei Daimler, auch bei Porsche und auch bei Audi in Heilbronn und Neckarsulm – gefährdet sind, in einen auszubauenden öffentlichen Verkehrssektor. Mit einem massiven Ausbau der Radwege. Endlich mit der Umsetzung von Tempolimits – 120 auf Autobahnen, maximal 80 auf den übrigen Fernstraßen und maximal 30 im gesamten Stadtverkehr. Also: Entschleunigung und Gewinnung von Lebensqualität.
Lasst uns eine Bilanz ziehen: Bereits ein Blick auf diese drei Branchen zeigt: Die Krise bietet Chancen für die Politikwende. Doch die Regierenden erklären Sektoren für „systemrelevant“, die die Systeme Klima, Umwelt und Gesundheit zerstören. Hinzu kommen natürlich Branchen, die nochmals deutlicher zerstörerisch sind – wie die Rüstungsindustrie, die ja auch als „systemrelevant“ eingestuft wurde. So gab es mitten in der Corona-Krise nur eine einzige angekündigte Großinvestition: Die Verteidigungsministerin teilte mit, man werde für mehrere Milliarden US-Dollar F12-Kampfflugzeuge in den USA bestellen.
Und hinzu kommen „il grande opere inutile“ – diese großen unnützen und zerstörerischen Projekte. Gerade wurde uns gemeldet, dass unsere Freundinnen und Freunde im Val di Susa den Kampf gegen das absurde Großprojekt der Hochgeschwindigkeitsstrecke Lyon – Turin mit einem 50-km-Tunnelbau neu intensivieren. Wobei bei diesen Großprojekten ganz oben auf der Liste steht: Stuttgart 21, wo ja auch die gesamte Corona-Krise hindurch weitergebaut werden musste. Wo ja die neuen krassen Enthüllungen in Sachen Filder-Anschluss oder in Sachen Bebauungsbeginn Rosensteinpark ab dem Jahr 2035 inzwischen von den Grün- und Christlich-Regierenden geradezu stoisch hingenommen werden.
Vorgestern charakterisierte Parkschützer Klaus Gebhard treffend die Situation: „Wenn die verrannten und verbohrten S21-Tunnelfetischisten gleich welcher Couleur weiterhin auf nichts anderes als neue CO2-intensivste Tunnellösungen setzen, dann werden am Ende der geschätzt 15-20 Jahre Planungs- und Bauzeit gar keine Fahrgäste mehr übrig sein, weil sie die überhitzte und durch solch irre Projekte noch zusätzlich aufgeheizte Erdatmosphäre bis dahin weggeweht, weggeschwemmt oder ausgetrocknet haben wird! […] Wie können insbesondere Grüne angesichts der hochbrisanten Klimaentwicklung, die uns keine 10 Jahre Zeit mehr bis zur totalen und unumkehrbaren Unbeherrschbarkeit mehr lässt, derart gravierende Erkenntnisse der Klimawissenschaften so vollständig ausblenden?“[9]
Die Regierenden steuern diese Branchen und die gesamte Wirtschaft in eine Richtung, die die zerstörerischen Potenzen steigern. Damit wird auch eine zweite Welle der Epidemie begünstigt. Damit wird die Klimakrise neu angeheizt. Damit werden Dutzende Steuermilliarden verbrannt. Indem Arbeitsplätze ohne Nachhaltigkeit erhalten werden, werden letzten Endes Hunderttausende Jobs gefährdet. Und zwar genau in diesen Bereichen:
schweinisch schlachten
billigst nach Malle jetten
und „fahrn, fahrn, fahrn, auf der Autobahn“
all das wird durch die Epidemie, mit der Wirtschaftskrise und als Ergebnis der Klimaaufheizung elementar in Frage gestellt.
Nur eine Politikwende um 180 Grad macht Sinn. Diese kann nur mit einem breiten Bündnis von unten, bestehend aus Gewerkschaftsmitgliedern, Umweltverbänden und Klimaaktiven, durchgesetzt werden. Wir auf diesem Platz und wir mit dieser Ausdauer und Kreativität sind Teil dieses Bündnisses.
Das „Wir zahlen nicht für eure Krise“ muss mit Inhalten gefüllt und mit einer Kampagne vorangetrieben werden. Und ein zentraler Bestandteil in einem solchen Forderungskatalog lautet: Stoppt Stuttgart 21. Setzt auf Umstieg 21, nunmehr neu konkretisiert mit der City-Güter-Logistik.
Lasst uns allesamt gesund und …oben bleiben!
Anmerkungen:
[1] Angaben der Johns Hopkins University. Die Debatten darüber, wer „an“ oder „mit dem Virus“ gestorben ist, sind spitzfindig. Die Dunkelziffern der Corona-Toten, vor allem in den Peripherieländern, ist gewaltig. Seriöse Beobachter in Brasilien z.B. gehen davon aus, dass man die aktuelle Zahl von 57.622 Corona-Toten mit 4 bis 6 multiplizieren müsse, um in die Nähe der tatsächlichen Zahl der Corona-Toten zu gelangen.
[2[ U.a. nach Weser-Kurier vom 19. Juni 2020. Vergleichbares sagt Peter Kossen jedoch seit mehr als acht Jahren. Siehe u.a. Publik (verdi) 7/2013. Das heißt: Der Skandal ist seit langer Zeit bekannt. Das hat nur wenige berührt – schon gar nicht die verschiedenen NRW-Landesregierungen. Erst durch Corona gelangte das Thema in die Massenmedien.
[3] Nach: Stuttgarter Zeitung vom 6. Juni 2017.
[4] Ebenda.
[5] Esslinger Zeitung vom 9. Februar 2020.
[6] Presseerklärung Aktionsbündnis gegen S21 vom 26. Juni 2020.
[7] Es geht aktuell um die fünf Plug-in-Hybrid-Modelle Mercedes Benz S560e, MB E300 de Limousine, MB 300 de T-Modell, A250e und A250e Limousine. Der zuletzt genannte, preiswerteste Plug-in-Hybrid beginnt bei 34.623 Euro, der zuerst genannte beginnt bei 91.000 Euro. Wobei mehr als 80 Prozent dieser Pkw als Geschäftswagen verkauft werden, also steuerlich zusätzlich begünstigt werden. (Angaben nach: Website Daimler Group).
[8] Wirtschaftswoche vom 30. April 2020 (19/2020).
[9] Rundmail vom 27. Juni 2020 von Klaus Gebhard, Parkschützer, aktiv im Widerstand gegen Stuttgart 21.
Offener Brief von Ingo Speidel Stuttgart am 1. Juli 2020
zu Winfried Wolfs Rede auf der Montags- Kundgebung in Stuttgart am 29.6.20
Hallo Winnie!
Deine Rede hat mir gefallen – was die Themen angeht, die Du aufs Korn genommen
hast. Die werden auch im OB-Wahlkampf von Hannes eine Rolle spielen. Deswegen
möchte ich Dir meine Fragen bzw. Kritikpunkte mitteilen.
– Zum Kaufhof in Cannstatt: „Wir sind solidarisch mit den Betroffenen“ Ok. Aber: „…alles zu tun, die Kaufhäuser offen zu halten und die Arbeitsplätze zu erhalten.“
Sind wir für die Beibehaltung von großen Kaufhäusern in den Städten? Eher nicht. Wir
sind doch dafür, dass die zentralen Funktionen unserer Städte abgebaut werden, dass die Zentren entzerrt werden. Die Einwohner Cannstatts und die Beschäftigten haben bestimmt genügend Phantasie, wie aus diesem regionalen Konsumtempel ein lokaler Ort der Begegnung gemacht werden kann. Arbeitsplätze erhalten? Um den Lohn nicht zu
verlieren? Nein, dort Tätigkeiten entwickeln, die Spaß machen, sinnvoll sind und das
Leben der Anwohner bereichern. Ohne Geld!
– Zur Fleischwirtschaft: Sehr gut, was Du als Alternativen vorschlägst. Nur Eines macht
mich stutzig: „…regionale Agrarwirtschaft mit der Schaffung Zehntausender Arbeitsplätze.‘“
Wieder die „Arbeitsplätze“, wo Geld verdient wird. Oder meinst Du „Zehntausende von
neuen sinnvollen Tätigkeiten zur lokalen Selbstversorgung“, weg von der Geldwirtschaft, der kapitalistischen Logik? Eigentlich sind wir doch für „system change“, oder?
– Zur Luftfahrt und zur Auto-Industrie:
Das ist der Knackpunkt für uns in Stuttgart. Hier müssen wir die richtigen Antworten finden. Unsere Perspektiven für den Verkehr, für die obilität. Da habe ich bisher am meisten von Dir gelernt.
Zur Mobilität zuerst was ganz allgemeines: Vor einigen Tagen habe ich gelesen, ich weiß leider nicht mehr wo, dass die Mobilität bei uns zu einer Sucht geworden ist, also zu einer Krankheit, und dass ein Drittel des weltweiten Sozialprodukts für die Mobilität geschaffen wird. Völlig klar: Unsere heutige Mobilität ist ein Fetisch. Nicht lebensnotwendig. Aber damit kann man prima Geld , also Kapital akkumulieren. Also systemrelevant.
Unsere Aufgabe: Den Klimakiller Verkehr drastisch reduzieren. Auf das Lebensnotwendige. Und nicht: ihn „vernünftiger“ umzubauen (Stichwörter: Elektroauto, Solarbahnhof). „Repariert nicht, was euch kaputtmacht“, rufen die Wertkritiker.
Das heißt natürlich auch: Die Lohn-Arbeitsplätze in diesem Sektor abbauen. Und nicht „die Stewardessen und Piloten in den übrigen öffentlichen Verkehr übernehmen“ oder die Autoproduzenten „zur Fertigung von Loks, Waggons und Bussen“ zu konvertieren.
Der öffentliche Verkehr? In der Corona-Krise erleben wir: leere Bahnen, U-Bahnen. Die Bus-Unternehmen gehen pleite. Corona beweist: Lebensnotwendig ist das alles nicht!
„Nur eine Politikwende um 180 Grad macht Sinn.“ Jaja. Aber mit den Gewerkschaften???
Uns in Stuttgart gellt noch der Entsetzensschrei von IGM-Zitzelsberger im Ohr, als die SPD eine neue Abwrackprämie verhinderte: Verrat!
Winnie, wie kannst Du nur die „Erkenntnisse der Klimawissenschaften so vollständig
ausblenden?‘“
Antwort von Winfried Wolf auf den Offenen Brief von Ingo
Lieber Ingo,
im Großen und Ganzen bin ich mit Deinen Kritikpunkten, die ja meist Ergänzungspunkte sind, einverstanden. Dass Du mir in mancher Hinsicht seit 45 Jahren immer einen Tick voraus bist, zumindest aus Deiner Sicht, ist ja bekannt. Das ganz einzuholen, werde ich nie schaffen.
Mobilität = Sucht. Ich halte das für eine Mode-Debatte. Das trifft eher auf die Reichen, die Vermögenden, die geobene Mittelklasse zu, auf die Frequent Flyers, die die Lufthansa-Senator-Card haben und auf die Leute mit Porsche-Cayenne & mit Zweiwagen Tesla S zu. Sicher auch auf ein paar Prol-Jugendliche-Machos. Doch nicht auf die „normale Bevölkerung“. In Berlin z.B. hat auch heute noch jeder zweite Haushalt kein Auto. Das sind doch gleiche Durchschnittsbürger wie die Stuttgarter. Und warum hat in Stuttgart max. ein Drittel der Haushalte kein Auto? Klar, das höhere Pro-Kopf-Einkommen spielt eine Rolle. Doch die ENTSCHEIDENDE Rolle spielt dabei die Tatsache, dass man in Berlin bei aller Kritik am öffentlichen Verkehr wesentlich besser mit Öffis unterwegs ist als in Stuttgart. Das ist der WESENTLICHE Grund und der ENTSCHEIDENDE Unterschied. Und wenn in Kopenhagen mehr als 50% aller Wege, die die Bürgerinnen und Bürger unternehmen, FAHRRADwege sind – und hier der Anteil in Stuttgart bei weniger als einem Drittel des Kopenhagen-Werts liegt, dann ist der Grund für diese krasse Diskrepanz nicht die unterschiedliche DNA oder das Fahrrad-Gen der Däninnen und Dänen. Nein, wenn eine Stadt für´s Radl so bequem und so attraktiv ist, wie das im Fall der dänischen Hauptstadt der Fall ist, dann bewegt sich die Mehrheit der Leute auf dem Radl. Von wegen „Mobilitäts-Sucht“, die ist dann weitgehend weggeblasen. (Der Anteil de E-Räder ist im übrigen in Kopenhagen ausgesprochen niedrig; niedriger als in BRD-Städten).
WENN etwas dran ist an Deinem „Sucht-Argument“, dann müsste man das in Richtung „Fetisch“ diskutieren – und in Zusammenhang bringen mit der Entfremdung, die die kapitalistische Maloche und die kapitalistische Lebensweise und die kapitalistische shopping-Welt mit sich bringen – und wo ein HighTech-Auto ein ergänzendes Element ist bzw. eine Ersatzbefriedigung (als Ersatz für befriedigende Arbeit und Ersatz für fehlende Solidarität in der Gesellschaft) mit sich bringt.
Öffentlicher Verkehr: Dass der jetzt TEILWEISE weniger genutzt wird, ist richtig. Doch das wird schnell wieder vorbei sein. Heute fuhr ich in Berlin nur in vollen Bussen, in einer vollen U-Bahn und in einem weitgehend gut gefüllten Regionalexpress.
Klar, wenn es eine „zweite Welle“ gibt, dann wird sich das Phänomen wiederholen. Und solange es keinen Impfstoff gegen das Virus gibt, bleibt diese Gefahr bestehen.
Doch grundsätzlich muss man in Stuttgart
– den Radverkehr verdoppeln bis verdreifachen (trotz hügeliger Struktur) – auf einen Anteil am gesamten Verkehr von mehr als 30%
– den ÖPNV um gut 30% ausbauen und um gut 50% stärker nutzen. Auf einen Anteil von ca. 35%
Zusammen mit dem auch auf einen Anteil von 25% zu stärkenden Fussverkehr kommt man dann auf „grüne Verkehrsarten“, die 90% aller Bewegungen auf sich vereinnen. Der REST der der REST-Autoverkehr.
Das ist heute machbar. Und das sollte das Ziel sein.
In diesem Sinn habe ich mich gestern mit Hannes und Tom getroffen, um ein verkehrspolitisches Manifest für Stuttgart (und den OB-Wahlkampf von Hannes) zu skizzieren, was ich jetzt in den nächsten zwei Wochen auszuarbeiten werde.
Gewerkschaften: Ja, schrecklich, was die IGM BaWü und bundesweit da in Sachen Abwrackprämie abgelassen haben. Das muss man offen angreifen. Es GIBT aber Zehntausende gute Gewerkschafter, die das anders sehen oder die zumindest für Dinge, die ich in der Richtung dessen, was ich am Montag auf der Demo sagte, ansprechbar sind. AUCH in der Autoindustrie.
Es wäre crzay, die nicht anzusprechen. Zumal die dann, wenn die Krise zuschlägt und die Entlassungen konkret werden, offene Ojren haben werden. Und ich sagte m.E. nicht, dass man „die Gewerkschaften“ einbeziehen müsste, sondern dass man „GewerkschaftsMITGLIEDER“ anzusprechen und in ein solches Bündnis einzubeziehen hätte.
Angehängt meine – am Ende nochmals optimierte – Rede. (Wobei ich diese Passage nicht ändern musste).
Wir sehen uns u.a. im Wahlkampf und am Fuss des „Schwäbischen Laokoon“, den ich am Dienstag in Bodman erneut staunend besichtigte und der ein echtes Politikum im OB-Wahlkampf werden wird …
Liebe Grüße
winnie